Die Geschichte der Arbeitsmigration in Lübeck

Direktor Kraft überzeugt sich von der Qualität des Essens, Unser Schaffen 1961, Heft 10

Ab Freitag, 25. Juni, lädt das Industriemuseum Geschichtswerkstatt Herrenwyk im Rahmen einer neuen Sonderausstellungmit dem Titel „GastArbeiter!?“seine Besucher:innen dazu ein, sich mit der Geschichte der Gastarbeiter:innen so wie der Arbeitsmigration nach Lübeck auseinanderzusetzen. Anlass ist das Anwerbeabkommen mit der Türkei, das sich in diesem Jahr zum 60. Mal jährt. Die Ausstellung wird bis 14. November zu sehen sein. „GastArbeiter!?“ist eine Kooperation des Industriemuseums mit der Völkerkundesammlung Lübeck. Dies zeige laut Prof. Dr. Hans Wißkirchen, dem Leitenden Direktor der LÜBECKER MUSEEN, auch die Stärke des Museumverbundes: „Durch den Zusammenschluss von Häusern mit unterschiedlichsten Thematiken sind wir in der Lage, aus einem breiten Sammlungsfundus zu schöpfen und übergreifende Sonderausstellungen auf die Beine zu stellen, die Fragestellungen aus wechselnden Blickwinkeln beleuchten. Zudem zeigen wir mit dieser Ausstellung, dass sich unser Fokus nicht nur auf die Innenstadt richtet, sondern auch Lübecks Stadtteile mit in den Blick nimmt.“

„GastArbeiter!?“ versteht sich nicht als allgemeine Ausstellung über Migration nach Lübeck an sich, was aufgrund der Komplexität des Themenfelds nicht zu leisten wäre. Vielmehr sollen Menschen im Vordergrund stehen, die mit einem konkreten Arbeitsangebot in die Hansestadtgekommen sind -also nicht die Menschen, die in der unbestimmten Hoffnung auf ein besseres Leben für sich und die eigenen Kindernach Lübeck kamen und teilweise abwertend als „Wirtschaftsflüchtlinge“ bezeichnet wurden.
„Da auch das Thema der Gastarbeiter so groß wie weitläufig ist und sehr viele Facetten aufweist, kann diese Ausstellung auch nur einen groben Einblick leisten und zur weiteren Auseinandersetzung mit der Thematik motivieren.“, erklärt die Kuratorin der Ausstellung und Leiterin des Industriemuseums, Dr. Bettina Braunmüller. Es gehe um die lange Geschichte von fremden Beschäftigten in Lübeck als eine Integrationsgeschichte von Leben zwischen zwei Ländern/Kulturen rund um die Schlagworte Globalisierung, Transnationalismus, Flucht und Migration.

Zahlreiche Text-und Bildtafeln dokumentieren den historischen Verlauf der Arbeitsmigration von den ersten Posen und Westpreußen, die das Hochofenwerk Lübeck um 1900 aufbauten, über die Gastarbeiter:innen ab den 1960er Jahren bis hin zudem Fachkräfteeinwanderungsgesetz, das die heutige Arbeitsmigration regelt. Neben den Abkommen mit Ländern wie Italien, Portugal, Griechenland, Spanien oder der Türkei werden die Lebens-und Arbeitsbedingungen der Gastarbeiter:innen beleuchtet. Auch die Diskriminierung dieser Menschen, der Austausch von Gütern zwischen Deutschland und den Heimatländern sowie die Definition von Heimat der Gastarbeiterkinder soll thematisiert werden. Ein Blick in die Gegenwart zeigt das Leben heutiger Saisonarbeiter:innen und Arbeitsmigrant:innen wie z.B. Lastwagenfahrer:innen oder Erdbeerpflücker:innen.

Das Herzstück der Ausstellung bilden umfangreiche Zeitzeugen-Portraits von Gastarbeiter:innen aus Lübeck, die hier geblieben sind und den Besucher:innen ihre Geschichte in einem Interview-Format erzählen. Private Erinnerungsstücke dieser Menschen vervollständigen das Bild ebenso wie Tonaufnahmen türkischer Künstler, die sich damals und heute mit dem Thema der Einwanderung musikalisch auseinandergesetzt haben. „Es war für uns, Dr. Lars Frühsorge von der Lübecker Völkerkundesammlung und mich, die diese Interviews geführt haben, ein ganz besonderes Erlebnis. Diese Menschen und Familien haben mit uns ihre Lebensgeschichtengeteilt und auch sehr private Einblicke gewährt, teils auch traumatische Erlebnisse geschildert. Es war für uns eine besondere Ehre, dieses Vertrauen entgegengebracht zu bekommen und schafft für den Besucher ein einzigartiges Museumserlebnis. Die Geschichte bekommt durch diese Lübecker ein Gesicht –man merkt, es geht hier nicht um eine anonyme Masse der „Gastarbeiter“ oder eine Zahl in einer Statistik, sondern um ganz persönliche Lebensgeschichten und Lebensentscheidungen, die Auswirkungen hatten auf das eigene Leben und das Leben anderer. Ich selbst habe mich durch die Arbeit an dieser Ausstellung sehr bereichert gefühlt“, berichtet Braunmüller über ihre Arbeit an der Ausstellung.
Dank gelte der Possehl-Stiftung für die finanzielle Förderung ebenso wie dem Förderverein des Museums und dem Haus der Kulturen für die Vermittlung von Kontakten.

Essen im Werksheim, Unser Schaffen 1970, Heft 9 und 10

Zum Begriff Gastarbeiter: „Beim Blick in die Ausstellung und auf das Werbematerial kommt gleich als Erstes die Frage auf: Wieso ist der Titel der Ausstellung ‚GastArbeiter!?‘ in so einer merkwürdigen Schreibweise gehalten? Die Antwort lautet: Weil das Thema der Gastarbeit sehr vielschichtig und auch der Begriff aus heutiger Sicht problematisch ist“, erklärt die Kuratorin der Ausstellung und Leiterin des Industriemuseums, Dr. Bettina Braunmüller. Die Bezeichnung „Gastarbeiter“ sei alltagssprachlich und keineswegs amtssprachlich. Sie umschreibt im allgemeinen Sprachverständnis ausländische Arbeiter, die im Rahmen von An-werbeabkommen im Nachkriegsdeutschland des Wirtschaftswunders in die BRD gekommen sind, um hier einen Arbeitskräftemangel auszugleichen, so genannte „Arbeitsemigranten“. „Der Begriff des Gastarbeiters wurde jedoch bereits in den 1970er Jahren von einigen Soziologen als zu euphemistisch, d.h. als zu beschönigend, kritisiert. Schließlich lebten die Gastarbeiter oft unter schlechten Bedingungen und nicht unbedingt wie Gäste, denen Gastfreundschaft entgegengebracht wurde“, erläutert Frühsorge, Mitkurator und Leiter der Lübecker Völkerkundesammlung. Später wich man daher auf Bezeichnungen wie „ausländische Arbeitnehmer“ oder „Arbeitsmigranten“ aus und setzte den Terminus „Gastarbeiter“ oft in Anführungszeichen, um sich von dessen Beschönigung zu distanzieren.

Der Begriff des Gastes sei inhaltlich teils treffend, da man in der BRD nicht die Absicht hatte, die ausländischen Arbeiter in die deutsche Gesellschaft zu integrieren oder ihnen eine neue Heimat zu geben. Nach getaner Arbeit sollten sie wieder abreisen. Daher waren auch alle Arbeitsverträge über die Anwerbeabkommen mit den Partnerstaaten zeitlich befristet.
Dennoch blieben viele Gastarbeiter:innen über viele Jahre oder sogar für immer in Deutsch-land, heirateten hier, bekamen Kinder bekamen und wurden in der BRD alt. Aus vermeintlichen „Gästen“ wurden Einwanderer, die blieben.

Digitale Vernissage
Die Ausstellung wird mit einer digitalen Vernissage eröffnet. Dieser Film kann ab Freitag, dem 25. Juni, unter www.geschichtswerkstatt-herrenwyk.de abgerufen werden.

Begleitprogramm
Begleitend zur Ausstellung finden einmal im Montag jeweils samstags um 10:00 Uhr öffentliche Führungen mit den beiden Kuratoren im Wechsel statt. Termine: 17. Juli (Braunmüller), 14. August (Frühsorge), 18. September (Braunmüller), 23. Oktober (Frühsorge) und 13. November (Braunmüller). Um Voranmeldung wird gebeten, da die Mindestteilnehmerzahl pro Führung bei vier, die Maximalzahl bei sieben Personen liegt. Schulklassen oder andere Gruppen erhalten Führungen auf Anfrage. Alle Termine und Veranstaltungen werden abhängig von der Pandemielage kurzfristig auf der Website des Industriemuseumsbekannt gegeben.
Weitere Informationen unter www.geschichtswerkstatt-herrenwyk.de.

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