Turbostaat, Support: Edgar R – deutscher Post-Punk

Freitag | 5.8.2022 | 20:30 Uhr | treibsAND | Willy-Brandt-Allee 9 | Lübeck

Es ist das siebte Studioalbum von Turbostaat und es wird Uthlande heißen; ein alter Begriff für die Inseln, Halligen und Marschen vor dem nordfriesischen Festland. Bei diesem Titel und den dazugehörigen Liedern kommen mir drei unterschiedliche Gedanken in den Kopf, die aber miteinander zusammenhängen: ich denke an John Donne, an etwas, das man zwischenzeitlich aus den Augen verloren hat und an Tobert Knopp, den Bassisten der Band. John Donne eröffnete im 17. Jahrhundert eines seiner Prosastücke mit dem Satz „No Man is an Iland“. Die Doppelbedeutung lässt sich im modernen Englischen nur noch phonetisch nachvollziehen, denn „Iland“ heißt sowohl „Insel“ als auch „Ich-Land“. Im Deutschen klingt Simmels „Niemand ist eine Insel“ nur halb so aufregend. Es sagt aber dasselbe: ich kann mich noch so sehr als Einzelstück aufführen, wenn etwas von Dir weg ist, ist auch etwas von mir weg. Und wenn ich weg bin, ist ein Teil vom Ganzen weg. Vielleicht geht der Titel in die Richtung dieses Bildes. Ein Teil der Uthlande ist ja bereits Einzelstück für Einzelstück im Meer versunken. Ein anderer Teil kämpft dagegen an. Und so sieht es auch ein bisschen mit dem Ich-Land und seiner Umgebung aus, das immer schon der zentrale Bezugspunkt der TurbostaatLyrik war. Man erinnere sich kurz an die beiden Vorgänger-Alben. Das letzte behandelte die Frage des menschenwürdigen Lebens, verpackt in die Geschichte des Aufbruchs an den nicht existenten Ort Abalonia. Das vorletzte erzählte von den Orten, an denen die Angst ‚regiert‘, was ein ziemlich guter Ausdruck für das ist, was die Angst macht. Und nach Utopie und Dystopie rückt auf dieser Platte nun eine dritte Variante in den Vordergrund: Übrigbleiben und Beharren im Mosaik der Möglichkeiten. Wo diese Möglichkeiten schon mal nicht liegen, beschreibt etwa Brockengeist, eines der sehr poppigen, fließenden Stücke der Platte. Mit Blick auf das gegenwärtige Popkultur-Geschehen heißt es dort fast lakonisch: „Wer den Schnee umarmt, wird die Kälte akzeptieren“. Und dann eins mit ihr. In diesem Sinne lässt sich das am Ende eingestreute Ton Steine Scherben-Zitat wohl auch als alternative Standortbestimmung verstehen. Turbostaat sind ein Role Model für eine ganze Generation von deutschsprachigen Post-Punk-Bands. Manche Leute sind mit ihnen älter geworden, manche haben sie dabei aus den Augen verloren. Manche sind selbst schon wieder weg. Wer nach 21 Jahren noch da ist, gehört zu den Übriggebliebenen und den Beharrlichen. Die erste relevante Frage ist dabei, wie man das musikalisch meistert. Wer die Entwicklung der Band verfolgt hat, wird sagen, dass sie sich gleich im Beginn einen sehr soliden eigenen musikalischen Rahmen und Stil aufgebaut hat, der über die einzelnen Platten hinweg immer wieder etwas justiert und gut dosiert weiterentwickelt wurde. Und jetzt? Gibt es noch die Schafe auf dem Deich, den Leuchtturm, den Nebel und immer diesen Wind. Aber man ist auf dem falschen Weg, wenn man in diesen Zutaten bloß ‚den Norden‘ als Landschaft und Region erkennen will und nicht Bilder für die Orte, an denen sich das soziale Wetter zusammenbraut. Es gibt immer noch diese fast privat wirkende Politisiertheit, deren Botschaft einen nicht gleich anspringt. Aber man muss sich auf dieser Platte schon sehr anstrengen, sie zu überhören. Wie in dem wütenden und energischen Rattenlinie Nord, in dem der aktuelle völkische Frühling von seinem Ende aus gedacht wird. Am Ende der von ihnen angerichteten Verheerungen trifft man die Bande immer auf der Flucht – vor allem vor der Verantwortung. Und dann, auch das gehört zur illusionslosen Wahrheit, geht es wieder von vorne los. Es gibt auch immer noch die Unlust, in klassischen Songstrukturen zu denken. Aber es öffnen sich zugleich an manchen Stellen, und vielleicht auch stärker als auf den letzten Platten, Türen für Refrains, die man in ‚Hits‘ reinschreibt. Es gibt noch das Vorwärtsstrebende. Aber es kleidet sich dezenter. Und es gibt dieses weiterhin sehr große „Nein“. Tobert Knopp hat es sinngemäß einmal so formuliert: Man kann „Nein“ sagen. Aber je häufiger man an der einen Stelle „Nein“ sagt, desto häufiger muss man an der anderen Stelle „Ja“ sagen. Seine Aussage bezog sich auf diese Band, die gerade von der kleinen Punk-Welt ins Musikgeschäft gespült wurde und sich dort mit ganz neuen Gesetzen auseinandersetzen musste. Wie das oft ausgeht, ist bekannt. Die zweite relevante Frage ist also, wie man es besser macht, um am Ende nicht öde und entkräftet oder als eigenes Denkmal dazustehen. Sehr deutlich, fast schon motivisch, durchzieht diese Frage einen Großteil der Lieder dieser Platte. Sie taucht in dem beschwingt-hymnischen Schönes Blau auf, das im Blick zurück diverse Gründe auflistet, aus denen junge Menschen in der Provinz eigensinnige, abweichende Bands, Szenen und Einstellungen hervorbringen. Und sie begegnet einem in Heilehaus wo im musikalischen Punk-Tonfall die ernüchternde Realität dieser Subkultur-Heimat beschrieben wird. Wer überhaupt noch in der Lage ist, diese beiden Szenarien in einem Atemzug zu betrachten (und auszuhalten), hat schon einiges „besser gemacht“. Und so hört sich auch Uthlande an. Nach einer Insel, die verteidigt wird. Nach einer ganzen Inselgruppe.

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